Schule des Rades

Hermann Keyserling

Das Erbe der Schule der Weisheit

2. Heft · Der Weg zur Vollendung - 1921

Vom Beruf

Seit dem Erscheinen des Aufsatzes Arbeit gelangen vielfach Anfragen an mich über die Art, wie dieser oder jener äußere Beruf vollkommen befriedigend zu gestalten wäre; sie kommen nicht bloß von Einzelnen, die ihre Tätigkeit nicht glücklich macht, sondern auch von industriellen Verbänden, die ihren Angestellten zu einem innerlichen Verhältnis zu ihrer Arbeit verhelfen möchten. Daraufhin sehe ich mich veranlasst, jenen ersten Aufsatz durch die folgenden Betrachtungen zu ergänzen. Ich halte für ausgeschlossen, dass irgendein äußerer Beruf vollkommen befriedigend zu gestalten wäre, aus dem sehr einfachen und zugleich entscheidenden Grunde, dass keiner dem ganzen Menschen zum Ausdruck verhelfen kann. Die äußeren Berufe ergeben sich aus den Bedürfnissen der Gemeinschaft: ihre Zahl ist folglich eng begrenzt; jedes Individuum hingegen ist einzig, und deren Zahl unendlich. Wie sollte da eine vollständige Deckung von Beruf und Mensch auch nur theoretisch denkbar sein? Freilich kommt solche vor, aber sie spricht dann nicht für, sondern gegen den Betreffenden: sie beweist dessen wesentliche Äußerlichkeit, über welche ja auch, was die richtigen Berufsmenschen betrifft, alle Einsichtigen einig sind. Ein wertvoller Mensch kann weder, noch darf er in seinem Berufe aufgehen; folglich ist die Frage darnach, wie irgendeiner vollkommen befriedigen könnte, falsch gestellt.

Aber nicht minder falsch ist die aus dem Obigen nicht selten gezogene Folgerung, jeder äußere Beruf sei, als menschenunwürdig, zu verwerfen, oder aber, wo er ausgeübt werde, rein mechanisch zu betreiben. Den letzteren Punkt hat schon mein Aufsatz Arbeit widerlegt. Was aber den ersten betrifft, so sei das Folgende bedacht. Die Berufe sind keine Willkürerzeugnisse; sie erwachsen aus den Notwendigkeiten des Gemeinschaftslebens. Dieses ist aber in bezug auf den Einzelnen kein rein äußerliches: wie Aristoteles den Menschen scharfen Blicks als ζῶον πολιτιϰὸν definierte, so entsprechen überhaupt organische Teile jedes Einzelnen den Gemeinschaftsbedürfnissen. Dieses leuchtet hinsichtlich des Familienlebens am leichtesten ein: dieses verhilft nie dem einsamen Grund der Einzelseele zum Ausdruck, sondern dem Gattungswesen; wer deshalb ganz in ihm aufgeht, wirkt minderwertig, im Fall von Männern immer, in dem der Frauen jedesmal, wo nichts Tieferes durch das der Frau normale Gattunghafte hindurchleuchtet. Aber andererseits wirkt der unvollkommen, dem die betreffenden Triebe und Fähigkeiten des Geistes und Herzens fehlen, weil jeder Mensch unter anderem eben auch Gattungswesen ist, weil dieses das Persönliche recht eigentlich trägt; was über den Rang entscheidet, ist das Verhältnis von Gattunghaftem und Persönlichem. Dieses muss vorherrschen; jenes aber darf nie fehlen oder verkümmern. Nicht anders steht es grundsätzlich mit jedem äußeren Beruf. Man kann tatsächlich geborener Staatsmann, Richter, Industrieller usw. sein, nicht bloß wegen vorhandener besonderer Anlagen, sondern aus dem tieferen Grund, dass die genannten Betätigungen, die einem Bedürfnis der Gemeinschaft entsprechen, andererseits dem politischen Wesen der fraglichen Persönlichkeit den angemessenen Ausdruck verleihen. Deshalb bedürfen alle die eines äußeren Berufs, die keinen unbedingt vorherrschenden inneren in sich lebendig spüren. Und auch diese reihen sich, früh oder spät, unwillkürlich einem solchen ein, weil eben auch sie unter anderem politische Wesen sind und jede nicht schlechthin überflüssige Tätigkeit den Bedürfnissen der Gemeinschaft irgendwie entspricht. Der innere Beruf wird so unaufhaltsam auch zum äußeren; was den rein von innen heraus Schaffenden vom Berufsarbeiter unterscheidet, ist letztlich nur das Verhältnis zwischen dem innerlich-persönlich und dem innerlich-sozial Bedingten.

Jetzt können wir zur Synthese schreiten. Kein äußerer Beruf kann noch soll den ganzen Menschen erschöpfen. Aber da jeder unter anderem auch Gemeinschafts- (wie andererseits Gattungs)wesen ist, so entspricht doch jedem auch irgendeine äußere Tätigkeit; daher die Befriedigung, die jeder an angemessener Berufsarbeit findet. Nur muss diese freilich angemessen sein: wem hier, bei möglicher freier Wahl, der Instinkt versagt, der hat sein Unglück gleichermaßen sich selber zuzuschreiben, wie wer sich einen falschen Ehegatten kürt. Leider besteht für sehr viele zur Zeit noch keine volle Freiheit der Wahl; so sicher dies in Zukunft anders werden muss — heute haben wir damit zu rechnen. Da gilt es denn das Folgende einzusehen. Erstens sind die wenigsten Menschen als soziale Wesen so stark differenziert, dass nicht verschiedene Berufe gleichermaßen für sie in Frage kämen; die meisten können Verschiedenes gleich gut werden. Deshalb lohnt es sich nicht, darüber viel nachzugrübeln, ob der gegebene Beruf einem nun ganz entspreche oder nicht. Es gilt ihn nur sinnvoll auszuüben; dann bleibt die Befriedigung nicht aus. Zweitens erwecke man die Erkenntnis in sich zum bestimmenden Leben, dass das Ideal nicht in der Ausgefülltheit durch den Beruf beschlossen liegt, sondern im Gegenteil, der persönlichen Überlegenheit über denselben, wie befriedigend er auch sei. Das einsam-einzige persönliche Wesen spricht nie aus dem ζωου πολιτιχσυ heraus: dies gilt es im Bewusstsein festzuhalten. Diese Geistesübung allein schon hilft über Unbefriedigtheit hinweg, lässt die innere Überlegenheit wachsen. Man sage sich: was ich als Gemeinschaftswesen tue, quillt keinesfalls aus meinem tiefsten Grund, also leide ich töricht, aus Missverständnis, wenn mein Beruf mich nicht befriedigt. Dann aber führe man nicht etwa zwei Leben, ein inneres und ein rein äußerliches, sondern man suche das innerliche ohne Unterlass in das äußerliche hineinstrahlen zu lassen. Dahin strebend wird man immer mehr erkennen, dass die Schichten des Wesens, die für die äußere Tätigkeit in Frage kommen, ihrerseits Ausdrucksmittel werden des tiefsten Selbst, sogar dort, wo die äußere Tätigkeit den Anlagen wenig entspricht. In letzterem Falle wirkt der Widerstand als Askese. Viele haben als Berufsmenschen Höchstes geleistet, welche anderes lieber geworden wären, als sie wurden: dies lag allemal daran, dass die erforderliche Überwindung ihr persönliches Wesen so sehr wachsen ließ, dass dieses zuletzt das Äußerliche ganz beseelte. Solche sind nun dem Menschheitsideal gewisslich näher, als vollbefriedigte Berufsmenschen; einen gleichen Zusammenhang zwischen Sein und Tun zu schaffen liegt andererseits in jedes Macht. Dies gilt sogar vom mechanischen Arbeiter, womit ich denn zur Beantwortung der Frage eines industriellen Verbands gelange. Rein mechanische Arbeit kann keinen Menschen befriedigen, solche an sich zu einem inneren Berufe umzugestalten wird nie gelingen. Hier sehe ich keine andere grundsätzliche äußere Lösung als die, alles Reinmechanische möglichst vollständig Maschinen zu übertragen, so dass dem Menschen nur Initiative Erforderndes zu tun übrigbleibt. Solange wir soweit nicht sind, kann der Mensch im Arbeiter nur durch Gelegenheit zum außerberuflichen Streben und dessen Förderung befriedigt werden, was die modernen Forderungen nach verkürzter Arbeitszeit und einem Lohntarif, welcher ein mehr als animalisches Leben gewährleistet, durchaus berechtigt erscheinen lässt — gleichviel, ob die Arbeiter mit Muße und überschüssigen Einnahmen von vornherein vernünftig umzugehen wissen oder nicht. Bessere Bildung wird Trägheit und Unvernunft auf die Dauer besiegen. Eine wesentliche Lösung des Problems kann aber auch hier nur die innerliche bieten. Wenn der Arbeiter seiner Tätigkeit so überlegen bleibt, wie dies vom Handwerker des Mittelalters galt, dann wird sein Innerliches desto mehr ins Äußerliche überfließen; er wird, anders ausgedrückt, immer mehr Qualitätsarbeit leisten, je mehr er Mensch sein kann. Im übrigen aber wird mechanische Arbeit noch auf Jahrhunderte hinaus dem inneren Entwicklungszustand der überwiegenden Mehrheit so gut entsprechen, dass die Frage, ob ein Arbeiterdasein menschenwürdig sei, ebenso lange nichtgestellt zu werden braucht. Dies desto weniger, als auch der schöpferische Geist, der Staatsmann, Künstler und Unternehmer, wie er sich auch stelle, so manche lange Stunde seines Tages mit Arbeit zubringen muss, die sich von der mechanischen des Handwerkers nur äußerlich, nicht wesentlich unterscheidet.

Hermann Keyserling
Das Erbe der Schule der Weisheit · 1981
Der Weg zur Vollendung
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